Die Adressaten des so anbetungswürdigen Getränks Wein sind die Sinne, das ist seit über 2000 Jahren bekannt. Sehr schwer ist es bekanntlich aber, die Sinneseindrücke – Geschmäcke und Gerüche – in Worten verständlich zum Ausdruck zu bringen. Wir glauben auch, dass Sinneseindrücke ganz subjektiv und überhaupt schlecht mitteilbar sind. Gleichzeitig gilt Wein zu trinken, darüber zu sprechen und zu urteilen als etwas sehr Kultiviertes und es unterliegt daher dem Postulat, nicht allein Sache der subjektiven Meinung zu sein. Hieraus, aus dem Anspruch, etwas Gültiges darüber aussagen zu können, bezieht das Reden über Kunst und Kultur erst ihre Legitimation und ihre Exklusivität, denn zu einem Urteil darüber bedarf es mühsam zu erarbeitenden Spezialwissens und echte Kennerschaft. Wer über Wein spricht oder schreibt, bedient sich deshalb meistens der so genannten Weinsprache. Sie soll es ermöglichen, nachvollziehbare Urteile auszudrücken.
Bei der Beurteilung von Wein gilt nämlich ein fast schon übertriebenes Objektivitätsideal: das Urteil sollte möglichst nichts Subjektives enthalten, alles sollte ganz sachlich und nachvollziehbar sein. Den Wein ganz nach nach dem persönlichen Geschmack zu beschreiben, hieße, seine Bedeutung zu relativieren und seine Funktion zu verkennen.
Ein guter Wein ist wie ein Kunstwerk und es ist gerade kennzeichnend für Kunstwerke, dass sie aus objektiven Gründen zu loben oder zu tadeln sind und dass der persönliche Geschmack letztlich keine Rolle spielen darf. Das Sprechen und Schreiben über konkrete Weine und ihren Geschmack (Weinexperten nennen dieses Genre »Verkostungsnotizen«) beschränkt sich deshalb meistens darauf, möglichst genau zu beschreiben, welche Geschmacksatome im Wein anzutreffen waren. Eine Kritik ist auch möglich, allerdings beschränkt sie sich auf das Feststellen der Anwesenheit oder Abwesenheit handwerklicher Fehler. Die aufgrund dieser Beschreibung gewonnene Beurteilung findet dann meist Niederschlag in einer Punktebewertung.
Wenn es also stimmt, dass das Bestreben, über Wein ausschließlich mithilfe der ganz objektiven Weinsprache zu sprechen, mit dem Wunsch zu tun hat, den Wein als etwas darzustellen, das dem Bereich der Kultur und Kunst nahe ist, dann darf die sptbrgndr-Redaktion wohl den Vergleich zur Kunstkritik herstellen!
Denn beim Reden über Kunst gilt ja in weiten Teilen ebenfalls das Gebot, möglichst objektiv und sachlich zu sprechen und jedenfalls alles bloß Subjektive wegzulassen. Das betrifft allerdings in erster Linie die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kunst – dort enthält man sich möglichst aller Urteile. Anders ist es mit der Kunstkritik: Hier darf und soll der Kritiker ein Urteil finden und es auch gerne exzentrisch vertreten. Sicher soll er Argumente bemühen und sich nicht nur auf das persönliche Gefühl berufen. Aber gleichzeitig sind ästhetische Urteile immer auch Geschmacksurteile. Jean-Baptiste Dubos, einer der ersten, die darüber nachgedacht haben, wie man über Kunst und Geschmack reden kann, formuliert das in seinem berühmten Ragoutvergleich:
Auch wo scheinbar ganz objektiv über Kunst und Kultur gesprochen wird, spielt deshalb immer Wertung eine Rolle und es geht zumindest unterschwellig immer auch darum, ästhetische Urteile zu vertreten. In diesem Sinne wird in den Feuilletons der großen überregionalen Zeitungen seit einigen Jahren auch über Popmusik geschrieben. Dabei versuchen Kritiken so gut wie nie, musikalisch zu beschreiben, sondern gehen gleich auf Bedeutung und Wertung ein. Letzteres wird fast immer als etwas objektiv Gültiges ausgegeben. Dieser Trend ist nur die andere Seite des größeren Trends, der überhaupt dazu führt, dass Popmusik verstärkt Thema des Feuilletons wird: Der Popmusik wird eine besondere kulturelle Bedeutung zugeschrieben.
Diese Beobachtungen setzen die sptbrgndr-Redaktion in den Stand, eine These auszugeben: Je mehr man einem Phänomen tatsächliche kulturelle Relevanz und Bedeutung zuschreibt, desto weniger benutzt man eine rein deskriptive Sprache, um darüber zu reden. Reine Deskription ist dann immer nur ein Teil, der zwar, um Kennerschaft und dergleichen zu signalisieren, argumentativ wichtig ist, der aber nicht die eigentliche Botschaft darstellt.
Was besagt der Vergleich mit der Kunstkritik für die Weinkritik? Während die Analyse vor allem die Funktion hat, Kritik zu begründen und zu ermöglichen, beschränkt sich die Besprechung von Wein sehr häufig auf die Analyse und sieht die Kritik als etwas, das ohnehin nicht verallgemeinert werden kann. Hier hakt sptbrgndr ein und stellt die (offene) Frage, warum man eigentlich eine möglichst objektive Beschreibungssprache benutzen will, wenn man dem Wein doch keine Bedeutung zumisst. Wenn es nur ein Handwerksprodukt ist, wäre das doch gar nicht nötig. Auch über meisterhaft gefertigte Tische oder Kleiderschränke spricht man doch nicht nach Maßgabe einer möglichst objektiven Beschreibung. Die Kochkunst, die hier vielleicht ein Bindeglied darstellt, wird ja bisweilen durchaus nach dem Vorbild der Literatur- und Kunstkritik verhandelt (Jürgen Dollase).
Wenn man aber dem Wein eine über bloße Handwerkskunst hinausgehende Bedeutung zumessen will – warum geht man dann nicht den Schritt zu einer Kritik der Weine? Wo Wein ausführlich thematisiert wird, findet sich häufig eine unentschiedene Ambiguität zwischen Wein als etwas kulturell Bedeutsamen, über das man gültige und über die konkrete Flasche hinaus relevante Aussagen treffen kann, und Wein als Handwerksprodukt, das man nur präzise beschreiben und lege artis beurteilen kann und dessen Bewertung immer Gegenstand des allein subjektiven Empfindens bleibt. Diese Ambiguität ist uns ein Dorn im Auge! Nur wenn es gelingt, sie aufzulösen, kann sie das Sprechen über Wein von dem – sicher meistens ungerechten – Vorwurf emanzipieren, bloß affektiertes Gequatsche zu sein.